Die Regeln aufschreiben:
Was wäre gewesen wenn. Eine Frage, die sich die ehemalige Bahnradfahrerin Kristina Vogel oft stellt. Ihre Karriere als bis dato erfolgreichste Bahnradsportlerin nahm durch einen schweren Unfall ein jähes Ende.
Am 26. Juni 2018 veränderte sich ihr Leben. Kristina Vogel hatte zusammen mit der vierfachen Junioren-Weltmeisterin Pauline Grabosch trainiert. Als Grabosch von der Bahn fuhr, beschleunigte Vogel und kollidierte mit einem holländischen Juniorfahrer, der plötzlich auf die Bahn gefahren war. Beim Sturz wurde Vogels Rückenmark am siebten Brustwirbel durchtrennt. Seither ist sie querschnittsgelähmt. Was genau passiert ist, ist immer noch nicht vollständig geklärt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer.
Wäre der Unfall vermeidbar gewesen? „Ja“, sagt Kristina Vogel, „mit vielen kleinen Stellschrauben.“ Wenn Bahnbetrieb ist, gebe es viele kleine, ungeschriebene Regeln, erklärt sie. Jede*r Bahnradfahrer*in und jede*r Trainer*in kenne sie. Darum ist vieles noch immer unklar: „Warum ist der andere auf die Bahn aufgefahren und hat es nicht besser gewusst? Warum haben die Trainer nichts gesagt? Warum war kein Personal da?“ Es sei nicht immer jemand da – aber dann müssen die anderen besser aufpassen, so die ungeschriebene Regel. „Ich hab vorher geguckt, es war alles frei“ – ein Schulterblick, der schon dem Nachwuchs in Fleisch und Blut übergegangen sein sollte.
Verhaltensweisen anerziehen
Bahnradfahren ist ein riskanter Sport. Die Fahrer*innen sind ungeheuer schnell und bremsen mit ihrem ganzen Körper. Da braucht es Regeln, geschriebene, die einerseits helfen, Unfälle zu vermeiden, andererseits Klarheit in Haftungsfragen bringen. Seit ihrem Unfall ist Kristina Vogel Mitglied in der Athleten- und Bahnkommission des Weltradsportverbandes (UCI). Hier werden beispielswiese Bahnpläne für den Weltcupbetrieb aufgestellt. Vogel stellt aber weitere Überlegungen an. Sie hat beobachtet, „dass in dem halben Jahr nach dem Unfall alle unheimlich nervös waren“ – das hat sich wieder normalisiert. Ihrer Meinung nach fehlt es einerseits an Sensibilität: „Extra Qualifikationen für Trainer, Bahntrainer, Verantwortliche, um deren Verantwortlichkeiten zu schärfen.“ Klar, alle sind Menschen und machen Fehler. Aber gegenseitige Rücksichtnahme könne man durchaus antrainieren. Den Schulterblick etwa, der ein Automatismus sein sollte. „Ich selbst war immer die Vorsichtige. Aber ich hatte einen Blick dafür, wo und wie schnell meine Gegnerin ist, das war meine Taktik.“ Daneben wünscht sie sich feste Regeln und eine feste Systematik: Mehr Personal etwa, oder akustische Hinweise. „Letztlich ist das auch eine Kostenfrage. Wer ist dafür verantwortlich: Der Verein? Der Verband?“ Ein ungeliebtes Thema. Niemand sieht die Notwendigkeit für mehr Personal – aber man muss investieren, sonst ist es zu spät.
Inklusion von Anderen
2019, ein Jahr nach ihrem folgenreichen Unfall. Kristina Vogel zieht als Kommunalpolitikerin in den Stadtrat Erfurt ein. Sie ist Mitglied im Ausschuss für Soziales, Arbeitsmarkt und Gleichstellung sowie im Ausschuss für Ordnung, Sicherheit, Ortsteile und Ehrenamt. Kein Sport, denn der ist in Erfurt Teil des Wirtschaftsausschusses. Ihr Thema ist Inklusion. „Wir müssen Anerkennung und Wertschätzung von Andersartigen in die Mitte unserer Gesellschaft lassen“, sagt sie. „Ich habe eine Stimme bekommen, und ich muss meine Stimme nutzen.“
Die politische Arbeit war zu Beginn nicht gerade ein Lebenstraum. Kristina Vogel wurde gefragt und überlegte. Als Bundespolizistin, Ex-Sportlerin im Rollstuhl und Erfurterin wollte sie ihrer Stadt etwas zurückgeben und entschied sich für ein „ja“. „Gesunder Menschenverstand trägt“, findet sie, „Bauch und Kopf zusammen.“ Dass die Politik ganz schön weit weg vom Sport ist, lässt sie schmunzeln: „Athleten sind problemorientiert, die Politik ist das nicht. Stets Mittlösungen zu finden, dauert. Ich werde wirklich entschleunigt!“